Sonntag, 12. Juni 2011

Tagesanzeiger: «Die ADHS-Welle kommt»

Wieder einmal titelt der Tages Anzeiger einen Artikel nicht mit einem eigenen Titel, sondern mit einem Zitat aus dem Artikel. Dies ist eine einfache Methode, eine tolle Schlagzeile zu erhalten, ohne sich für Kritik zu exponieren.

Denn: "Es ist ja ein Zitat und durch die Anführungszeichen als solches zu erkennen".

Fazit:"billig und feige".


"Gemäss einer neuen Studie leiden in der Schweiz 265'000 Erwachsene an einem Aufmerksamkeitsdefizit. Mit gravierenden Folgen. Fachkräfte warnen vor einer vorschnellen Medikamentenverschreibung."
Der Aufreisser ist auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Welche Studie? Von wem? Wie heisst die Studie?
Und welche Fachkräfte warnen vor welcher vorschnellen Verschreibung?

Bisher habe ich selbst nur von Leuten gehört, die von anderen gehört haben, wie schnell zu Ritalin gegriffen werde.
Von direkt Betroffenen (persönlich Betroffene und ihr nächstes Umfeld) kenne ich ausschliesslich das pure Gegenteil. Ich weiss von Odysseen durch Schulsozialarbeiter, Kinderarzt bis hin zu schulpsychologischen Diensten bei denen die Existenz von ADS (mit und ohne Hyperaktivität) schlicht geleugnet wird.


"265'000 erwachsene Menschen in der Schweiz leiden an der sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – Tendenz steigend. Bisher ist die Störung bei Kindern bekannt, jetzt warnen Experten vor einer Welle bei Erwachsenen, schreibt die «Sonntagszeitung»."
"Bisher" heisst:"Bis vor 16 Jahren!". Denn seit 1995 gilt es als erwiesen, dass ADS und ADHS (Aufmerksamkeits Defizit Syndrom mit und ohne Hypeaktivität) auch bei Erwachsenen existiert bzw dass sich das ADS / ADHS nicht bei allen Kindern in der Pubertät "auswächst"

Aber wenn selbst Ärzte und sogar Psychiater dies nicht wissen oder wissen wollen, ist dies für einen Journalisten mehr als entschuldbar. Schade ist allerdings wiederum, dass man nicht erfährt, wer diese Experten denn sind und auf welche Quellen sich der Journalist da stützt.

Und der Ausdruck "Tendenz steigend" ist irreführend. Bis in die späten 80er Jahre gab es in der Schweiz überhaupt kein ADS. Hyperaktive Kinder bekamen in der Schweiz den Stempel POS (Psycho Organisches Syndrom) aufgedrückt.

Und jene ohne Hyperaktivität waren in der Unterstufe einfach "Träumer" und ab der Mittelstufe "fuuli Sieche". Kann man nun sagen, dass die Anzahl der Betroffenen zugenommen hat, nur weil man vor 30 Jahren die richtige Diagnose und Behandlung in der Schweiz noch nicht kannte?

"Dass die Zahlen steigen, belegt eine Studie der grössten Schweizer Krankenkasse, Helsana. «Der Trend bei Erwachsenen, welche Ritalin und Analoga verschrieben bekommen, geht klar nach oben», sagt Helsana-Sprecherin Claudia Wyss gegenüber der «Sonntagszeitung»."
Eine schöne Aussage. Dass dies aber einfach dadurch bedingt ist, dass die Existenz von ADS vor allem bei Erwachsenen erst seit wenigen Jahren akzeptiert und (sehr erfolgreich) behandelt wird, wird nicht geschrieben.
Ist denn nun das die im Aufreisser erwähnte Studie?

"«Die ADHS-Welle kommt», warnt der Freiburger Psychiater und ADHS-Spezialist Christophe Kaufmann. Wenn Erwachsene mit ADHS nicht behandelt würden, habe dies oft schwerwiegende Folgen. Sie seien potenzielle Raser auf der Strasse, hätten häufiger ungeschützten Geschlechtsverkehr, verübten öfter Gewalt, konsumierten eher Drogen oder hätten schwere seelische Krisen."
Mit den Folgen hat Herr Kaufmann sicher recht. Aber "Die ADHS-Welle kommt" ist so nicht ganz korrekt. Die Menschen mit ADS und ADHS sind nämlich längst da. Jetzt kommt "nur" eine Welle der positiven Befunde (wieso scheint sich die Diskussion eigentlich fast ausschliesslich auf ADHS - also mit Hyperaktivität- zu drehen?)

"Das Bundesamt für Gesundheit hat reagiert. Seit dem 1. Juni ist das Medikament Concerta zur Behandlung von ADHS unter verschiedenen Bedingungen vollumfänglich kassenpflichtig in der Grundversicherung."
Aufgrund der Fakten und vor allem der möglichen Folgekosten (Personen mit ADS leiden überdurchschnittlich häufig an Depressionen, Zwangshandlungen oder laufen eher in ein Burnout als andere Menschen) ist dies ein vernünftiger Schritt. Fraglich ist höchstens, wieso ausgerechnet das relativ teure Concerta und nicht auch das um mehr als den Faktor 3 billigere Ritalin bezahlt werden soll. Aber solange in unseren Parlamenten nicht endlich Transparenz über Interessensbindungen geschaffen wird, müssen wir wohl immer wieder mit nicht ganz nachvollziehbaren Entscheidungen zu Lasten der Steuer- und Krankenkassenzahler rechnen.

"Dominique Eich-Höchli warnt, dass ADHS zu einer neuen Modekrankheit hochstilisiert werde. Mit einer vorschnellen Diagnose würden nicht selten alte Leiden überdeckt. Medikamente dürften nur verschrieben werden, wenn gleichzeitig eine individuelle Therapie gestartet werde."
Hier noch nachgereicht: PD Dr. Med. Dominique Eich-Höchli, Psychiaterin,
Fachgruppe SFG-ADHS.
Die Frage bleibt, was denn mit "Modekrankheit" gemeint sein soll. Welche Folgen hat das? Besteht die Angst, dass die Ärzte vorschnell die Diagnose ADS stellen? Oder besteht die Angst, dass Ärzte sich nicht trauen, die richtige Diagnose zu stellen, weil sie befürchten, damit einer "Modeströmung" zu folgen?

Es war nicht ganz einfach, den richtigen Autoren ausfindig zu machen. Die inkonsistente Haltung von Tagesanzeiger/Newsnetz bei der Nennung der Autoren macht es nicht einfach, heraus zu finden, wer denn nun diesen Artikel geschrieben hat. Der einzige Hinweis ist das Kürzel (mrs) ganz am Ende des Artikels. Etwas Recherche von Frau Zeitungsjunge brachte dann doch noch einen Hinweis auf der (sehr unübersichtlichen und kaum durchsuchbaren) Impressum Seite des Tagesanzeigers.
Martin Sturzenegger ist also der Verfasser des Artikels. Schade, dass es der Tagesanzeiger/Newsnetz so schwer macht, Informationen zu finden (man gibt halt lieber Dinge über andere als über sich selbst preis).

1 Kommentar:

  1. Danke für den Beitrag. Nicht nur die Presse, Politiker und sogar Pädagogen tun sich mit ADS und ADHS schwer, allerdings ist die Welle eher die, das "alle" behaupten, sie wüssten was richtig und was falsch ist.

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